Der Verfasser stellt sich vor
             An einem für mich denkwürdigen Tag, im Jahre 1903, erblickte 
              ich in Stuttgart das Licht der Welt. In Wahrheit aber war es 11 
              Uhr nachts, denn ich kam mit einiger Verspätung an, da ich 
              mich lange gegen die Zumutung gewehrt hatte, ausgerechnet in das 
              zwanzigste Jahrhundert hineingeboren zu werden. Mit vollem Recht, 
              wie sich noch herausstellen sollte. Ich wurde aber leider nicht 
              gefragt. 
              Und dann war ich eben da. 
              Wäre dieses „freudige“ Ereignis doch wenigstens 
              hundert Jahre früher eingetreten. Im Jahre 1803. Alles wäre 
              so viel einfacher gewesen und lange nicht so aufregend. Der Held 
              meiner unschuldigen Kinderjahre wäre dann der Mann geworden, 
              der aus meiner schönen Heimat, Württemberg, ein richtiges 
              Königreich machte; ein Korse, den man den „Kleinen Korporal“ 
              nannte. Und von dem anderen Gefreiten, dem aus Braunau (auch er 
              ein Ausländer!), hätte ich nie etwas erfahren. 
              Als Neunjähriger hätte ich den an die russische Front 
              abmarschierenden Soldaten zugewinkt; auch von ihnen kamen nur wenige 
              zurück. Und in der Schule hätte man uns gelehrt, dass 
              wir in einer großen Zeit leben. So wie hundert Jahre später 
              ebenfalls, Anno 1914. 
              Aber auch die Befreiungskriege, die den gutgläubigen Deutschen 
              alles brachten, - nur nicht die versprochene Freiheit -, wären 
              vorübergegangen und die nachfolgenden Jahrzehnte wären 
              gemütlich, romantisch, friedlich und auch langweilig gewesen. 
              Mit 45 Jahren hätte ich mich an der sogenannten Revolution 
              beteiligt und wäre, an Deutschlands Zukunft verzweifelnd, nach 
              Amerika ausgewandert; im Jahr 1849, und nicht erst 1949. 
              Statt dessen kam ich, wie gesagt, am 21. September 1903 zur Welt. 
              Ein Ausdruck übrigens, der doch nur bedeuten kann, dass man 
              dazu bestimmt ist, ein „Weltbürger“ zu werden. 
              Ein schöner, aber auch gefährlicher Trugschluss. Denn 
              auch heute noch wird man in erster Linie als Franzose, als Engländer 
              oder, wie ich, als Deutscher geboren und man hat stolz darauf zu 
              sein. Denn Deutschland-Über-Alles ist das einzige, das beste 
              Land der Welt, wenn man denen Glauben schenkt, die alle 25 Jahre 
              die schwarz-weiß-roten oder hakenkreuz-braunen Grenzpfähle 
              überschreiten – mit Waffen in der Hand und in einer schmucken 
              Uniform. 
              Außerdem ist Deutschland selbstverständlich in allem 
              das Größte. Wir hatten die größten Dichter 
              und den größten Kaiser (der es, nachdem er 1918 ruhmlos 
              geflohen war, vorzog, Holzhacker zu werden), den größten 
              Feldherrn (sogar aller Zeiten!) und (was das Ausland neidlos anerkennt) 
              auch die größten Vernichtungslager. 
              Doch genug davon. Und später darüber mehr. 
              Ich kam also zur Welt, im Zeichen der Jungfrau. Mein erster Auftritt 
              im Rampenlicht des Lebens war, milde ausgedrückt, reichlich 
              entmutigend: eine Dame, die mir gar nicht vorgestellt worden war 
              und der ich nicht das mindeste zu Leid getan hatte, schlug mich 
              überraschend und kräftig auf beide Backen, wenn auch die 
              verkehrten. Zuerst war ich sprachlos über dieses unfeine Benehmen 
              (außerdem war ich nackt!), und dann brüllte ich. Die 
              „Dame“ aber lächelte – ein wie mir schien 
              ziemlich unfeines Lachen – und meine Mutter flüsterte: 
              Mein Junge! Ich aber dachte unter Tränen des Zorns und der 
              Scham: Das fängt ja gut an. 
              Und so ging es dann auch weiter. 
              Keine Angst, bitte. Das ist keine Autobiographie. Dazu habe ich 
              nicht das mindeste Recht. Ja, wenn ich wie Kiesinger für Goebbels 
              gearbeitet, wie Globke die „Nürnberger Gesetze“ 
              kommentiert oder wie Lammerding sämtliche männliche Bewohner 
              Oradours hätte erschießen sowie ihre Frauen und Kinder 
              in einer Kirche verbrennen lassen, dann wäre ich fein heraus. 
              Ich wäre Bundeskanzler, Adenauers Staatssekretär oder 
              General geworden und Verlage, Journale, Filmgesellschaften würden 
              sich um meine Ansichten und Erinnerungen reißen. So aber... 
              So aber war mein Leben beinahe alltäglich, meine Gedanken dagegen, 
              obwohl unbequem, für den Leser, für jugendliche vor allem, 
              so hoffe ich wenigstens, nicht völlig uninteressant. 
             
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